Über Laienspieler in der Politik zu klagen, ist einfach. Etwas dagegen zu unternehmen, wäre Aufgabe all derer, die dafür ausgebildet worden sind und für intelligente Beiträge bezahlt werden. Die sind sich aber entweder zu fein, zu sehr abgelenkt oder zu sehr ideologisch festgelegt, als dass sie die Politik kritisieren würden.
Die SPD entscheidet in der nächsten Woche darüber, wer die Partei nach den in jeder Hinsicht gescheiterten Vorgängern, Andra Nahles und Martin Schulz, in Zukunft führen soll. Wahrscheinlich wird Olaf Scholz gewinnen, der mit seiner Doppelpartnerin bei der bundesweiten Abstimmung unter den Parteimitgliedern immerhin etwa zehn Prozent für sich begeistern konnte (bei einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent).
Wer etwas genauer über Olaf Scholz Bescheid wissen will, sollte die Rede lesen, die er vor einigen Tagen bei der Haushaltsdebatte im Bundestag gehalten hat (hier zu finden). Das war vermutlich die schlechteste Rede, die bei dieser Gelegenheit jemals von einem Finanzminister vorgetragen wurde. Weder kam vor, dass Deutschland in einer Rezession ist, noch, dass Europa (für das er innerhalb der Regierung unmittelbar verantwortlich ist) sich weiterhin in der schwersten denkbaren Krise befindet. Die zentrale Frage für den Finanzminister, ob die Zinsentwicklung für Bundesanleihen (auch in dieser Woche im negativen Bereich) etwas mit der Schuldenpolitik der Bundesregierung zu tun hat, existiert für Olaf Scholz einfach nicht.
In der CDU ist die vor einem Jahr gewählte Vorsitzende auf dem Parteitag mit einer Art Vertrauensfrage noch einmal gerade so über die Runden gekommen. Die Rede allerdings, mit der sie den Parteitag zu überzeugen versuchte, war so unvorstellbar banal (hier zu finden), dass man sich angesichts des häufigen Beifalls fragt, ob es in der CDU überhaupt noch eine kritische Masse von denkenden Menschen gibt. Ich will niemandem zu nahe treten, aber die von AKK erwähnten 80 Juristen in der Bundestagsfraktion sind offenbar eine gewaltige Bürde.
Die Krone der Konfusion setzte sich aber Angela Merkel selbst auf. Zunächst glänzte sie in der Haushaltsdebatte mit der Erkenntnis, man könne „Investitionen nicht erst dann gut finden, wenn sie Schulden verursachen“, um dann – in einem dreifachen geistigen Salto – zu der nur genial zu nennenden Begründung für diesen Satz zu kommen. „Wenn man schon in Zeiten niedriger Zinsen Schulden mache“, so die Kanzlerin, „wisse man gar nicht, was man in Zeiten normaler Zinsen machen solle, etwa noch mehr Schulden“? Man muss sich diese (nur wenige Sekunden lange) Sequenz einer in voller Inbrunst agierenden Bundeskanzlerin anhören (hier), um wirklich zu verstehen, was in diesem Staat und in Europa im Argen liegt. Auch den Beifall aus dem Plenum sollte man bewusst zur Kenntnis nehmen und würdigen.
Intellektueller Niedergang der Politik …
In den Medien und in der Wissenschaft wird eine solche geistige Verirrung schon gar nicht mehr zur Kenntnis genommen, weil man sich der Tragweite nicht bewusst ist. Die meisten unserer politökonomischen Debatten leiden einfach darunter, dass viele Teilnehmer sich als reine Intellektuelle fühlen und niemals versucht haben, sich in die Politik einzubringen und sich zu bemühen, die Dinge vor Ort (in Berlin und in Brüssel) zum Besseren zu wenden.
Man muss sich ganz konkrete Politik so vorstellen, dass die Bundeskanzlerin beim nächsten Europäischen Rat diesen Satz, den sie offensichtlich unglaublich gut und wichtig findet, mit der gleichen Inbrunst wie im Bundestag in die europäische Runde wirft. Fast alle übrigen Staatsoberhäupter werden verblüfft und beindruckt sein, ob dieser glasklaren ökonomischen Analyse und der Bundeskanzlerin durch heftiges Kopfnicken Zustimmung signalisieren. Ursula von der Leyens Beamte werden sicher vorab von der Erkenntnis der Bundeskanzlerin durch die Beamten im Kanzleramt unterrichtet worden sein und ihr „spontane“ Zustimmung empfohlen haben. Valdis Dombrovskis, der Vizepräsident der Kommission, ist vermutlich begeistert, weil er etwas hört, was seinem Vorurteil in Sachen Schulden entspricht. Paolo Gentiloni, der zuständige Kommissar, ist verwirrt, weil er intuitiv spürt, dass das Statement anders klingt als das, was ihm seine Beamten erklärt haben, aber er schweigt lieber, weil er die Zusammenhänge wirklich nicht versteht.
Christine Lagarde wird ihren Sprechzettel nach einer Antwort durchsuchen, aber vermutlich nur eine Stelle finden, die ganz anders klingt als das, was die Bundeskanzlerin gesagt hat. Das spontan einzuwerfen, spart sie sich allerdings, liest jedoch, als sie nach langem Warten an der Reihe ist, ihren Sprechzettel vollständig vor. Macron wird etwas sagen, was ebenfalls anders klingt, wird aber die Bedeutung der deutsch-französischen Zusammenarbeit betonen und damit alle Kritik zudecken. Die Staats- und Regierungschefs gehen, nachdem alle ihre Zettel vorgelesen haben, freundlich lachend auseinander und sind ganz sicher, dass sie Europa wieder einmal ein Stück vorangebracht haben.
… aber auch Versagen der Intellektuellen
Was zeigt uns das? Es zeigt, dass von der Politik nicht erwartet werden kann, ihr Rituale, zumal die auf der europäischen Ebene, zu ändern und die Probleme ernsthaft zu diskutieren. Bei einer total versagenden Presse könnten nur diejenigen etwas ändern, die sich ideologiefrei mit den Zusammenhängen auseinandersetzen und wissen, dass die Bundeskanzlerin Humbug verbreitet. Würden zu Beginn der nächsten Woche 50 bis 100 Ökonomen aus ganz Europa und ganz unabhängig voneinander an die Öffentlichkeit gehen und der Bundeskanzlerin und ihrem gesamten Kabinett gravierendes Unwissen bei den wichtigsten ökonomischen Zusammenhängen vorwerfen, könnte die Politik das mit Sicherheit nicht ignorieren.
Doch das genau geschieht nicht und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Viele Ökonomen, die Lehrstühle an den Universitäten besetzen, kümmern sich schlicht nicht um die realen Probleme von Wirtschaft und Politik. Sie basteln an ihren Gleichgewichtsmodellen herum oder „überprüfen“ solche irrelevanten Modelle mit hochtrabenden ökonometrischen Methoden und verzichten vollständig darauf, die Politik zu beobachten und zu kritisieren. Andere müssen sich um die berühmten „Drittmittel“ kümmern, die überwiegend aus dem Dunstkreis der Politik kommen. Dort kritisiert man die Politik nicht so gerne offen und laut, weil man ja unmittelbar abhängig von politischen Entscheidungen ist.
Das gilt in Deutschland unmittelbar für die Forschungsinstitute, die man durch Akademisierung einerseits und durch ihre dramatische Abhängigkeit von Drittmitteln quasi mundtot in Sachen Kritik der Politik gemacht hat. Und dann gibt es noch die tiefen ideologischen Gräben, die vielen Ökonomen scheinbar Riegel dafür vorschieben, eine Bundeskanzlerin von der CDU zu kritisieren. Dabei ist die Konfusion der Kanzlerin in Sachen Ökonomik, ganz unabhängig davon, welche Richtung man vertritt, kritikwürdig.
Wer etwas an diesen schlimmen Zuständen ändern will, muss sich einerseits dafür einsetzen, dass Pluralität der Lehrmeinungen an den volkswirtschaftlichen Fakultäten und innerhalb der Institute zur Normalität wird. Hier gibt es einige Fortschritte auf der Seite der Studierenden, weil dort in zunehmendem Maße verstanden wird, wie einseitig die Wirtschaftswissenschaften angeboten werden. Ich bin allein in der nächsten Woche an drei Fakultäten eingeladen (Rostock, Chemnitz und Nürnberg), um neue Ansätze vorzustellen und zu diskutieren. Auf der Seite der Professoren ist aber die Phalanx der Neoliberalen und Neoklassiker noch lange nicht aufgebrochen.
Andererseits muss die Abhängigkeit der Universitäten und Forschungsinstitute von externen Geldgebern deutlich verringert werden. Das genügt jedoch nicht. Auch die direkte Finanzierung durch den Staat muss so gestaltet werden, dass die Institute nicht in Gefahr geraten, auf parteipolitische Interessenlagen Rücksicht nehmen oder sich gar von vorneherein anpassen zu müssen. Auch ein Institut in München muss progressive Meinungen vertreten dürfen.