„Matteo Salvini hat verloren, sein Plan, die Regierung zu stürzen, ist nicht aufgegangen.“ So oder ähnlich titeln die deutschen Blätter nach der Regionalwahl in der Emilia Romagna unisono und die Schadenfreude der „guten Europäer“ kriecht aus jeder Zeile. Der Deutschenhasser Salvini, der Mann, der Europa herausfordert, hat einen erheblichen Dämpfer bekommen. Doch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. In der Tat, Salvinis Lega hat ihr Ziel nicht erreicht, den amtierenden Regionalpräsidenten zu stürzen und mit einer Koalition rechter Parteien selbst die Macht in Bologna zu übernehmen.
Doch erst, wenn man weiß, wie ungeheuer ambitioniert dieses Ziel war, kann man beurteilen, ob das Ergebnis der Wahl mit fast 44 Prozent der Stimmen (für die rechte Koalition mit Namen Centrodestra, bei 51 Prozent für die von der Partito Demokratico (PD) geführte Koalition mit Namen Centrosinistra) eine Niederlage oder ein Sieg war. Zunächst muss man wissen, dass die Emilia Romagna wie keine andere Region in Italien seit Menschengedenken eine rote Hochburg war. Die „rote Region“, wie sie oft genannt wird, war seit 70 Jahren niemals anders als von tendenziell linken Regierungen regiert worden. Sie war jahrzehntelang eine Hochburg des italienischen Kommunismus.
In dieser Region kam der Sieger vom Sonntag, Stefano Bonaccini, bei der letzten Wahl im Jahr 2014 noch auf 49 Prozent (seine Partei PD auf 44 Prozent) gegen 29 Prozent einer auch damals schon ähnlich zusammengesetzten rechten Koalition. Die Fünf-Sterne-Bewegung kam auf 13 Prozent. Die Lega, die damals noch Lega Nord hieß, erzielte 19 Prozent. Jetzt erreichte die PD 34 Prozent, die Lega aber geschlagene 32 Prozent. Die Fünf-Sterne-Bewegung ist mit 3 Prozent pulverisiert worden. Forza Italia von Berlusconi ist Teil der rechten Koalition, blieb aber unter drei Prozent. Sehr bemerkenswert: Die Wahlbeteiligung hat sich von 37 Prozent auf 67 Prozent erhöht.
Ist eine Partei wie die Lega, die bei einer fast doppelt so hohen Wahlbeteiligung von 19 auf 32 Prozent zulegen kann, in irgendeiner Weise zurückgeworfen? Klar, sie hat ihr extrem anspruchsvolles Ziel nicht erreicht, aber in der Substanz, in ihrer Bedeutung für die italienische Politik, hat sie enorm gewonnen. Man muss kaum noch erwähnen, dass tief im Süden, in Kalabrien die Centrodestra (bei etwa gleicher Wahlbeteiligung wie 2014 von 44 Prozent) einen grandiosen Wahlsieg gefeiert hat mit 55 Prozent der Stimmen, wobei die Lega, die 2014 dort noch nicht antrat, aus dem Stand 12 Prozent geholt hat und drittstärkste Partei wurde. 2014 hatte die Centrosinistra Kalabrien noch mit 61 Prozent gewonnen, wobei die PD damals auf 23 Prozent kam, die diesmal nur noch 15 Prozent für sich verbuchen konnte.
Europa schläft weiter
Es ist genau so, wie es in den vergangenen Jahren fast immer gewesen ist: Wenn die ganz große Katastrophe ausbleibt, schläft Europa seelenruhig weiter. In Berlin und Brüssel wird man das Ergebnis schon morgen vergessen haben, weil man fest damit rechnet, dass die europatreue italienische Regierung aus PD und Fünf-Sterne-Bewegung weitermachen wird und der Alptraum Salvini erste einmal vorbeigegangen ist. Dann ist ja alles gut.
Nichts ist gut. Salvini wird enorm gestärkt weitermachen und er wird früher oder später sein Ziel erreichen. Er wird, bei dem Tempo, mit seine Partei zulegt, vermutlich schon bei den nächsten landesweiten Wahlen außer seinen kleinen Getreuen in der Centrodestra keine anderen Parteien brauchen, um eine Mehrheit zu erringen. Die Fünf-Sterne sind erledigt und die PD ist so schwach, dass sich selbst ihr eigener siegreicher Kandidat in der Emilia Romagna von ihr distanziert hat.
Hinzu kommt, dass die anhaltende Schwäche der europäischen Wirtschaft Salvini direkt in die Hände spielt. Ursula von der Leyen redet zwar viel, aber man hat nichts von ihr gehört, was diese Schwäche adressiert. Alle tun so, als ob die europäische Wirtschaft nicht viel anders als die deutsche einen langen Aufschwung hinter sich hat, der nun von einer temporären Schwäche unterbrochen wird, an der man nicht viel ändern kann. Das ist fundamental falsch. Die italienische Industrieproduktion hat ihren letzten Hochpunkt, der im Jahr 2011 lag, in diesem „Aufschwung“ nicht einmal erreicht. Seit Beginn des Jahres 2018 schwächt auch sie sich auf diesem niedrigen Niveau schon wieder ab. In Deutschland wurde immerhin das Niveau von 2011 zum Jahresende 2017 um sieben Prozent überschritten. Die deutsche Produktion liegt auch jetzt, nach einem kräftigen Rückgang noch immer etwa auf dem Niveau von 2011. Folglich ist die Arbeitslosigkeit in Italien immer noch sehr hoch.
Ein Europa, das sich selbst ernst nimmt und ein Interesse an seiner Weiterentwicklung hat, kann ein so wichtiges Land wie Italien mit seinen spezifischen Problemen nicht einfach ignorieren. Es muss genau diesem Land die Möglichkeit geben, mit staatlicher Anregung jede weitere Abschwächung zu verhindern und seine Arbeitslosigkeit abzubauen. Ja, es geht nur mit staatlicher Anregung – und die ist vollkommen unabhängig davon, wie hoch der Schuldenstand des Staates aktuell ist. Doch wie soll das eine Brüsseler Bürokratie begreifen, die sich unter von der Leyen natürlich noch viel weniger von Berlin emanzipieren kann als unter Juncker. Und wie soll das ein italienischer Kommissar begreifen, der für genau diese Fragen zuständig ist, aber keinerlei Ahnung von der Sache hat. Zu allem Überfluss hat er mit Marco Buti noch den früheren italienischen Generaldirektor für Wirtschaft und Finanzen zu seinem Kabinettschef gemacht, der in der gesamten Zeit der akuten Eurokrise für all die unendlich vielen Fehlentscheidungen verantwortlich war.
So demontiert sich Europa permanent selbst. Gleichzeitig rätseln die Medien und die Politik gemeinsam darüber, wie es sein kann, dass nationalistische Kräfte mehr und mehr die Oberhand gewinnen. Man befragt Historiker, was denn die Parallelen zu der dunklen Zeit sind, in der gerade in Deutschland und Italien die Nationalisten die Oberhand bekamen. Doch die Historiker sind hilflos. Wie sollten sie auch darauf kommen, dass es immer die gleiche spezifische Dummheit ist, die den Völkern die Chance nimmt, ihrem Schicksal durch eigene Anstrengungen aus dem Wege zu gehen.